Für die einen unsichtbar, für die anderen unüberwindbar
Jetzt wird es ernst. Denn sobald sich Christoph in den Rollstuhl gesetzt hat, darf er für den Rest des Tages nicht mehr aufstehen. Das ist die Regel. Nur so stoßen er und seine Kollegen tatsächlich auf die Hürden, die für sie ansonsten unsichtbar bleiben. Und nur so schärfen sie ihren Blick für die Bedürfnisse der im Alltag eingeschränkten Personen. Während wir die Treppen zum Ausgang runtereilen, vergessen wir schnell, dass für andere die Suche nach dem Aufzug beginnt.
Ein Projekt, das neugierig macht
Christoph und seine Azubi-Kollegen nahmen vor Kurzem an der Aktion „Bahn-Azubis gegen Hass und Gewalt“ teil. Jede Azubi-Gruppe musste sich ein eigenes Projekt überlegen. Christophs Team wollte einen Kurzfilm drehen. Alles hat mit der Suche nach einem Rollstuhl auf Ebay Kleinanzeigen begonnen. Der, den das Team gefunden hat, sollte 60 Euro kosten. Als die Frau, bei der er abgeholt werden sollte, von dem Projekt erfuhr, musste Christoph nur noch die Hälfte bezahlen. Unter der Bedingung, dass er der Dame die entstandenen Filmaufnahmen zuschickt. Sie war begeistert und neugierig auf das Projekt. Corona-bedingt mussten die Filmaufnahmen leider abgebrochen werden. Aber weil wir genauso gespannt waren und unser aller Blick schärfen möchten, wollen wir trotzdem über die Erfahrungen des Teams berichten.
Eine große Portion Mut und viel Übung
Die erste unsichtbare Hürde, auf die die Jugendlichen bei ihrem Versuch stoßen, ist die Zeit. Oder besser gesagt, die fehlende Zeit. Denn die S-Bahn fährt eng getaktet. Für das Ein- und Aussteigen bleibt immer nur eine enge Zeitspanne. Und dann ist da noch der schmale Schlitz zwischen Tür und Zug. Um den zu überwinden muss Christoph, der jetzt für die nächsten Stunden im Rollstuhl sitzt, ordentlich Schwung nehmen. „Dafür braucht man Mut und auch ein bisschen Übung“, sagt er. Dass Christoph dabei ganz vorne in die S-Bahn einsteigt ist kein Zufall. Dort kann er den Lokführer bereits mit einem Winken auf sich aufmerksam machen. Das ist wichtig. Denn ist der Bahnsteig ebenerdig, kann ein Rollstuhlfahrer den Schlitz zwischen Zug und Bahnsteigkannte mit Schwung selbst überwinden. Besteht jedoch ein Gefälle, klappt der Lokführer eine mobile Rampe aus, die sich in der Bahn oder am Bahnsteigkopf befindet.
Aufgegeben wird nicht
Erstes Ziel der Azubi-Gruppe ist der Bahnhof Giesing. Ein Bahnhof, der bisher nur eingeschränkt barrierefrei ist. Sie wollen herausfinden, wie sich Rollstuhlfahrer hier zurechtfinden. Während die Gruppe zu den Treppen eilt, bleibt einer zurück: Christoph im Rollstuhl. Im Verlauf des Tages erlebt Christoph noch so einige schwierige Momente, in denen er seine gewohnten Bewegungsmuster überdenken muss. Aufgeben will er aber nicht. Nach dem Tag, den er aus einer anderen Perspektive erlebt hat, fragen wir Christoph, was ihm besonders aufgefallen ist. Er denkt nach. „Besonders ist mir aufgefallen, dass man oft mitleidige Blicke zugeworfen bekommt, obwohl man gar kein Mitleid will. Man muss sehr wendig sein mit dem Rollstuhl und auch rückwärtsfahren können, zum Beispiel wenn man aus einem Aufzug aussteigt“, sagt er.
Es wird immer besser
Zu den Bahnhöfen und Zügen sagt Christoph zudem: „Insgesamt wird es immer besser, das merkt man.“ In den modernisierten ET423 wurde extra mehr Platz für Rollstuhlfahrer geschaffen, viele S-Bahnhöfe sind schon barrierefrei umgebaut, und die Lokführer sind darauf trainiert, die mobilen Rampen als Ein- und Ausstiegshilfe auszulegen. Er vertraut also voll auf die fortlaufenden Verbesserungen und Anstrengungen für die Zukunft der S-Bahn München. Und das können wir nur unterstreichen. In den nächsten Jahren werden mit Unterstützung von Bund und Land immer mehr S-Bahnhöfe barrierefrei umgebaut sein. Eines der zentralen Projekte für eine starke und attraktive Schiene in München.