Wenn man reinfährt, wird es dunkel…
Es ist früher Abend, als wir uns mit Philipp von DB Netz treffen. Er ist dort Leiter Betrieb Netz München und wird uns die Führung durch den Stammstreckentunnel geben. Wir sind freudig angespannt, ist es doch sonst aufgrund von Lebensgefahr verboten, die Gleisanlagen bzw. den Tunnel einfach so zu betreten. Bevor wir den Bahnsteig Richtung Stammstreckentunnel verlassen, gibt uns Philipp noch eine ausführliche Sicherheitsunterweisung. Und wir merken auch schnell, wieso das wichtig ist. Einen richtigen Weg zum Ostportal des Tunnels gibt es nicht. Wir laufen – ausgerüstet mit Warnwesten, Arbeitshandschuhen und sicherem Schuhwerk – über den Schotter neben den Gleisen. Dann geht’s auch schon in den Tunnel. Und Überraschung: kurz nach dem Betreten des Tunnels wird’s erstmal richtig dunkel.
Geheimnis 1 – Wo ist denn bloß der Lichtschalter?
Philipp zückt sein Handy und ruft den Fahrdienstleiter an, der den Bereich des Stammstreckentunnels betreut. Und das ist direkt das erste Geheimnis: Der hat an seinem Arbeitsplatz in der Betriebszentrale an der Donnersberger Brücke nämlich den Lichtschalter für den Tunnel. „Mach mal bitte das Licht an!“, bittet Philipp und siehe da, ein paar Sekunden später erleuchtet die Tunnelröhre nicht hell aber in ausreichendem Licht, um auf dem ungefähr ein Meter breiten Mittelstreifen gehen zu können. Das „Arbeitslicht“ wird nur für Bauarbeiten oder Inspektionen angeschaltet, sonst bleibt die Röhre dunkel.
Geheimnis 2 – Warum ist der Tunnel mal eckig und mal rund?
Philipp fängt an zu erzählen und gibt direkt das nächste Geheimnis preis: die Bauzeit des vier Kilometer langen Stammstreckentunnels. Nachdem 1965 der Bau der S-Bahn, einschließlich der Stammstrecke beschlossen wurde, kam 1966 regelrecht ein Katalysator hinzu. München erhielt den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972. Der Stammstreckentunnel musste also innerhalb von sechs Jahren fertiggestellt sein! Wenn man ehrlich ist, ist das Lichtgeschwindigkeit für solch ein Mammutprojekt. Geklappt hat es aber. Warum? Der Tunnel wurde damals in unterschiedliche Baulose aufgeteilt und konnte somit auch in unterschiedlichen Bauverfahren errichtet werden. Überall, wo es möglich war, wurde in der Stadt der Untergrund aufgebaggert und der Tunnel in offener Bauweise mit Trägern und Schlitzwänden gebaut. Da der Stammstreckentunnel aber auch unter der Isar hindurchführt und dort natürlich keine offene Baugrube möglich ist, musste dort der Tunnel mit Hilfe einer Tunnelbohrmaschine vorangetrieben werden. Im Tunnel selbst kann man das gut an den unterschiedlichen Formen der Röhre erkennen. Die offene Bauweise lässt sich an dem rechteckigen Tunnelquerschnitt (mindestens 8,60 m breit und 6,05 m hoch) erkennen, der gebohrte Tunnel ist hingegen kreisrund (Durchmesser 6,50 m) und besteht aus zwei separaten Röhren für den stadtein- und den stadtauswärtsfließenden S-Bahn-Verkehr.
Geheimnis 3 – Hier geht es aber steil bergab!
Was uns im Fahrgastraum der S-Bahn überhaupt nicht auffällt: die Stammstrecke im Tunnel hat ein ziemliches Gefälle, denn die rechte Isarseite liegt deutlich höher als die linke Isarseite. Überirdisch fällt uns das zum Beispiel immer dann auf, wenn wir auf der Maximiliansstraße Richtung Bayerischem Landtag hochblicken oder vom Isartor zum Gasteig laufen oder radeln. Da die Stammstrecke unterirdisch ja sogar unter der Isar hindurch läuft, geht es also ab dem Ostbahnhof besser gesagt ab der Haltestelle Rosenheimer Platz Richtung Innenstadt deutlich nach unten. 32 Promille (also 3,2%) misst hier das stärkste Gefälle. Der tiefste Punkt im Stammstreckentunnel liegt übrigens zwischen der Haltestelle Isartor und der Isar.
Geheimnis 4 – Schwarze Stahltore dienen der Sicherheit!
Das bringt uns direkt zum vierten Geheimnis, das uns genau hier, an der tiefsten Stelle des Stammstreckentunnels, erwartet. Denn kaum hat uns Philipp in der Tunnelröhre knapp 11 Meter unter der Isar hindurchgeführt, kommen wir an einen mit blauen Neonröhren beleuchteten Punkt etwa 150 Meter vor der Haltestelle Isartor. Die blauen Neonröhren kennzeichnen an dieser Stelle nicht nur einen Notausgang, sondern gleichzeitig auch das Wehrkammertor. Eine ganz besondere Sicherheitseinrichtung im S-Bahn-Netz, die aber noch nie im Ernstfall benutzt werden musste. Für was ist das Tor also gut? Im Grunde sind es sogar zwei - jeweils 25 Tonnen schwere - Stahltore, die bei Eindringen von Isarwasser in den Stammstreckentunnel heruntergelassen werden können. So würden die Tore in dem Fall verhindern, dass Wasser durch die beiden Tunnelröhren in Richtung der tiefer gelegenen Innenstadt fließen könnte. Im Maschinenraum direkt über den Gleisen, befinden sich die Motoren, die riesige Ketten antreiben, an denen die schwarzen Kolosse innerhalb von zwei Minuten hinuntergelassen oder wieder hochgezogen werden können. Im Übrigen ist alles dort unten im Stammstreckentunnel mit einer dünnen Schicht Staub überzogen. „Bremsstaub von der S-Bahn.“, erklärt uns Philipp. Gerade deswegen müssen die Wehrkammertore auch zweimal im Jahr bewegt werden, damit der Staub sich hier nicht festsetzen kann. Das passiert gleichzeitig zu anderen Arbeiten während der Instandhaltungswochenenden. Ein ziemlich wichtiges Geheimnis des Stammstreckentunnels also, das während der Fahrt nicht zu erkennen ist. Oberirdisch gibt zumindest der Metalldeckel des Notausgangs in der Steinsdorferstraße ganz in der Nähe der Ludwigsbrücke einen Hinweis auf dessen Existenz.
Geheimnis 5 – Wieso tanzt die Haltestelle Marienplatz aus der Reihe?
Wir gehen weiter die Tunnelröhre entlang. Kurz vor der Haltestelle Marienplatz fragt uns Philipp: „Oben oder unten lang?“ Wir brauchen einen kleinen Moment, bis wir verstehen, dass Philipp uns nicht fragt, ob wir den Tunnel verlassen oder unten weitergehen möchten. Vielmehr zielt seine Frage darauf ab, ob wir die Haltestelle Marienplatz in der oberen Tunnelröhre oder in der unteren Tunnelröhre begehen möchten. Die Haltestelle Marienplatz tanzt im Gegensatz zu den anderen Tunnelhaltestellen ganz schön aus der Reihe. Denn hier liegen die Gleise und somit die Bahnsteige nicht nebeneinander, sondern übereinander. Die S-Bahnen am oberen Bahnsteig fahren in Richtung Ostbahnhof und am unteren Bahnsteig in Richtung Hauptbahnhof. Wir gehen unten entlang und können so erkennen, dass die Bahnsteige nicht eins zu eins übereinander liegen, sondern ganz leicht versetzt. Warum wurde das aber so umgesetzt? Schon bei der Erbauung wurden genau hier die höchsten Fahrgastzahlen erwartet. Mit der zweistöckigen Bauweise wollte man erreichen, dass sich die Fahrgastströme etwas entzerren, nämlich auf zwei Ebenen. Ganz schön clever!
…wenn man rausfährt wird’s wieder hell.
Vom Marienplatz gehen wir dann noch weiter zum Karlsplatz (Stachus) und von dort noch 200 Meter – das ist übrigens die kürzeste Distanz zwischen zwei Haltestellen im Tunnel – bis zum Hauptbahnhof und gelangen danach über das Westportal des Stammstreckentunnels wieder an die Oberfläche. Wir stehen an der Haltestelle Hackerbrücke, sind froh, dass wir die Sonne wieder sehen, sind gleichzeitig aber immer noch fasziniert von den Geheimnissen des Stammstreckentunnels, die wir für euch lüften durften.