Hüterin der Kanzel Abläufe
Désirée ist Referentin für die örtlichen Aufsichten. Im Klartext heißt das, sie ist für die Mitarbeitenden in den Bahnsteigkanzeln zuständig. Das sind die Glaskästen, die ihr auf jedem Bahnsteig der Stammstrecke findet, aus denen heraus die Kollegen und Kolleginnen den Überblick über alle an- und abfahrenden Züge behalten. Und auch über die Dinge, die im und am Gleis passieren. Neben viel Organisatorischem wie zum Beispiel den Dienst- und Jahresurlaubsplänen, sitzt Désirée manchmal noch selbst in einer Kanzel und fertigt unsere roten Riesen bei der Ankunft und Weiterfahrt am Gleis ab. Seit fünf Jahren arbeitet sie nun bei der S-Bahn München, kennt sich also gut aus mit allem, was dort so passieren kann. Auch mit den Abläufen, die in Kraft treten, wenn unser Hab und Gut in die Gleise fällt.
Handy im Gleis und selbst die Gleise betreten? Keinesfalls!!!
„Es kommt natürlich sehr darauf an, was dem Fahrgast abhandenkommt. Bei einer Wasserflasche aus dem Supermarkt oder einer Mund-Nasen-Bedeckung werden wir nichts unternehmen. Ist es aber ein Handy, ein Geldbeutel oder ein persönlicher Gegenstand, können wir es bergen,“ erklärt uns Désirée in ihrem Büro am Ostbahnhof. „Oft wollen die Fahrgäste natürlich, dass wir das sofort machen. Das geht aber leider nicht so einfach. Wir können schließlich nicht mal eben den ganzen Verkehr stilllegen, um den Gleisbereich zu betreten.“ Fakt ist nämlich: um einen Gegenstand zu bergen, müssen erst entsprechende Bereiche gesperrt werden – im Fall vom Handy im Gleis am Ostbahnhof, wäre das die Strecke zwischen Leuchtenbergring bis Giesing oder Isartor. Ihr könnt euch denken: das hätte eine immense Verzögerung des ganzen Betriebs zur Folge. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Bahnen in der Hauptverkehrszeit an jeder Haltestelle der Stammstrecke nur 30 Sekunden Haltezeit haben dürfen, um im Takt zu bleiben.
Bergung? Klar! Aber nur nachts…
„In den Hauptverkehrszeiten von 6 Uhr bis 9 Uhr und von 16 Uhr bis 20 Uhr können wir also auf keinen Fall das Gleis sperren“, fährt Désirée fort. Meistens passieren die Bergungen deshalb nachts, wenn keine S-Bahn mehr fährt oder wenn die Abstände der Züge groß genug sind, dass es nicht zu Verzögerungen kommt. „Fahrgäste, die etwas verloren haben, bekommen darum in der Regel den Tipp, dass sie sich in den nächsten Tagen beim DB Fundbüro im Hauptbahnhof melden sollen. Dort bringen wir die Dinge hin, die wir nachts aus dem Gleis fischen.“ Aber wer ist eigentlich wir? Wo melde ich mich, wenn mir Handy, Handschuh oder der schicke Sommerhut ins Gleis gefallen ist? Die erste Anlaufstelle ist in solchen Fällen immer die Kanzel – die Mitarbeitenden dort stehen mit Rat und Tat zur Seite, geben Auskunft, wie es weitergeht und notieren sich die genaue Stelle, wo der Gegenstand liegt. Wenn es an der jeweiligen Station keine Kanzel gibt, am besten den Lokführer oder die Lokführerin ansprechen. Er oder sie kann die entsprechenden Infos an die örtliche Aufsicht weitergeben, damit die bei Nacht zur Bergung ausrücken kann.
Die Kanzel Connection
Einer von ihnen ist Andreas. Schon oft hat er aufgebrachte Fahrgäste beruhigt: „Klar, wenn das neue Handy im Gleis liegt, ist das natürlich echt ärgerlich. Aber ärgerlich wäre es auch, wenn sich wegen dem Ungeschick einer einzelnen Person sich der komplette Fahrplan verschiebt und alle anderen Fahrgäste darunter leiden müssen. Das verstehen leider manche Fahrgäste nicht, wenn wir ihnen sagen, dass wir nicht mal eben das Gleis sperren können.“ Einen Tag auf Handy und Co. warten? - Für einige wenige Uneinsichtige ist das keine Option. Sie springen einfach schnell ins Gleis – auch das hat Andreas schon beobachtet. Um es ganz deutlich zu sagen: Wer sowas tut, hat danach zurecht ein viel größeres Problem, als das verlorene Handy. Denn „Person im Gleis“ ist nicht nur lebensgefährlich, sondern auch strafbar. Und es kann eine Sperrung, viele Verspätungen und eine immense Geldstrafe für den Auslösenden nach sich ziehen. „Wenn es richtig blöd läuft“, erklärt Désirée, „muss derjenige oder diejenige sogar Ausfallgebühren zahlen für die Fahrgäste, die aufgrund der Verspätung Flüge, Züge und Co. verpassen.“ Ein Fass ohne Boden.
Von Kinderschuh bis Einkaufswagen
Wir halten also fest: nachts bergen zu lassen ist ein deutlich besserer Ausweg. Mit Warnweste und Sicherheitsausrüstung ausgestattet, betritt die Zugaufsicht dann auf vorgeschriebenen Wegen die zuvor durch den Fahrdienstleiter oder die Fahrdienstleiterin gesperrten Gleise, sucht den Gegenstand, nimmt ihn mit und liefert ihn beim Fundbüro ab. „Nach der Bergung müssen wir aus der Kanzel dem Fahrdienstleiter oder der Fahrdienstleiterin Bescheid geben, dass das Gleis wieder befahrbar ist und der Betrieb wieder aufgenommen werden kann.“ Kinderschuhe, Puppen, Geldbörsen, aber auch Einkaufstrolleys und Koffer finden immer mal wieder den unbeabsichtigten Weg ins Gleis. „Klar, wenn das während des Betriebes passiert, kann der Lokführer oder die Lokführerin natürlich sofort die Notbremsung veranlassen. Dabei kommt die einfahrende S-Bahn unmittelbar zum Stillstand und die örtliche Aufsicht kann parallel einen Nothaltauftrag veranlassen“, erklärt Désirée.
Hände frei beim Einsteigen
Situationen mit größeren Gegenständen, wie mit dem Einkaufstrolley, oder dass jemand seinem Hab und Gut hinterherspringt sind zum Glück wirklich selten, erzählen uns die Expert:innen. Die einprägenste Situation hatte Désirée übrigens mit dem kostbaren Schal einer älteren Dame. „Der ist ihr ins Gleis gefallen und wurde aber leider gleich vom Fahrtwind der abfahrenden S-Bahn weit weggeweht, den konnten wir also auch nicht mehr bergen und die Dame war wirklich sehr traurig“, erinnert sie sich. Damit so ein Ärgernis aber erst gar nicht passiert, hier der Tipp vom Profi: „Hände frei und alles in den Taschen verstauen, bevor man in die S-Bahn steigt. Augen aufs Ziel statt aufs Handy und einfach ein bisschen mehr „Obacht“ auf die Umgebung geben.“